24. 6. 2003
Liebe Genossinnen und Genossen,
mit diesem Brief übermittle ich Euch einen Vorschlag hinsichtlich des zu wählenden Vorstandes. Das ist ungewöhnlich und wirkt nicht besonders demokratisch. Normalerweise sollen Vorschläge aus den Kreisverbänden, den Landesorganisationen, den AG und IG oder auch von einzelnen kommen, wobei dann die Delegierten ihre Auswahl vornehmen.
Ihr werdet euch vielleicht noch daran erinnern, dass ich früher als Vorsitzender auf keinem Parteitag einen umfangreichen Vorschlag hinsichtlich eines zu wählenden Vorstandes vorgelegt habe. Ich verstehe deshalb die Bedenken dagegen und die Kritik daran und würde beides teilen, wenn wir nicht in der Situation wären, in die wir nun einmal geraten sind, wodurch und durch wen auch immer.
Die Partei befindet sich in einer schweren Krise, und nur deshalb war ich überhaupt bereit, erneut als Vorsitzender zu kandidieren. Ich glaube an die Möglichkeit zu einem Neustart, ich sehe die Kraft, die in uns steckt, und ich glaube, dass wir für viele Menschen in Deutschland wieder deutlich an politischer Anziehungskraft und Attraktivität gewinnen können. Wenn wir wollen, dann sind wir auch in der Lage, aus einer solchen Krise gestärkt hervorzugehen, unsere Politikfähigkeit als sozialistische Partei zu erhöhen, reale Alternativen zur herrschenden Politik vorzulegen und dabei mehr Menschen zu überzeugen, als das gegenwärtig der Fall ist.
Das setzt aber auch einen politikfähigen, an einem Strang ziehenden Vorstand voraus. Es setzt voraus, dass sich die Mitglieder des Vorstandes über die Tiefe der Krise ebenso im Klaren sind wie über die Chancen zu einem erfolgreichen neuen Start.
Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen und deshalb auch mein sehr ernst gemeinter und ungewöhnlicher umfangreicher Personalvorschlag. Denn solltet Ihr mich als Vorsitzenden wählen, bin ich nur in der Lage, die vor uns stehenden Aufgaben zu lösen, wenn wir einen Vorstand haben, der mich dabei aktiv unterstützt, der an dem gleichen Ziel arbeitet und in dem die einzelne und der einzelne bereit sind, sich im Interesse der Partei und der Sache zurückzunehmen. Es mag sehr traditionell klingen, aber im Augenblick brauchen wir einen Vorstand, der bereit ist, der Partei tatsächlich zu dienen. Weder können wir uns eine Blockade noch permanente ideologische Streitereien noch einen Kampf um Zuständigkeiten und Ressourcen oder eitle Auseinandersetzungen über öffentliche Auftritte leisten. In anderen Zeiten mag es auch verkraftbar sein, wenn jemand sein Ego über die Interessen der Partei stellt, wenn jemand vorwiegend über den Zugriff auf Ressourcen der Partei, um Zuständigkeit, also um Macht innerhalb der Partei kämpft. In der gegenwärtigen Situation können wir uns das nicht leisten.
Nicht jede und jeder, die bzw. der heute für einen Vorstand besonders geeignet ist, muss es auch in einer anderen Zeit sein. Und umgekehrt gilt, dass Leute, die heute vielleicht weniger geeignet erscheinen, es in einer anderen Zeit sein können. Auch Personalentscheidungen kann man nicht unabhängig von politischen Entscheidungen, nicht unabhängig von Raum und Zeit und von der Situation, in der sich die Partei befindet, treffen. Und da ich sehr wohl weiß, dass ein sich selbst blockierender Vorstand nicht nur sich selbst, sondern auch die Chance zum Neustart der PDS blockiert, habe ich mir überlegt, dass es in dieser außergewöhnlichen Situation gerechtfertig ist, euch diesen umfangreichen Vorschlag zu unterbreiten.
Er ist natürlich nicht ganz allein in meinem Kopf entstanden, sondern vorab mit vielen Genossinnen und Genossen diskutiert worden. Er widerspiegelt im Übrigen auch nicht meine Idealvariante, denn viele, die ich ansprach, waren zu einer Kandidatur nicht zu bewegen oder aus nachvollziehbaren Gründen dazu nicht in der Lage, was ich letztlich zu respektieren habe. Ich bin aber davon überzeugt, dass dann, wenn ihr meinen Vorschlag akzeptieren solltet, wir über einen Vorstand verfügen, der arbeits- und politikfähig ist, der zusammen mit euch und mit der gesamten Partei in der Lage wäre, uns aus der Krise zu führen und alle unseren politischen Konkurrentinnen und Konkurrenten, Gegnerinnen und Gegner Lügen strafte, die den Untergang der PDS schon so sicher glauben.
Wir brauchen einen Vorstand, dessen Mitglieder garantieren, dass in ihm Gesprächskultur, Loyalität und Verlässlichkeit herrschen. In jedem Vorstand, auch in dem von mir vorgeschlagenen, wird es Meinungsverschiedenheiten geben. Die Frage ist nur, wie man mit ihnen umgeht, ob darüber fair und miteinander oder ob darüber unfair und gegeneinander diskutiert wird, ob Mehrheitsentscheidungen respektiert werden. Solche scheinbar kleinen Fragen können in einer solchen Situation wie der gegenwärtigen darüber entscheiden, ob unser Vorhaben von einem Neustart für unsere Partei gelingen kann.
Dieser Vorstand wird für die Dauer eines Jahres gewählt. Dann entscheidet ihr neu. Bis dahin aber ist viel Arbeit zu leisten, die nur gelingen kann, wenn die Mitglieder des neu gewählten Vorstandes fest entschlossen und motiviert sind, gemeinsam zu handeln und die Krise zu überwinden.
Mit freundlichen Grüßen
Lothar Bisky
Anlage zum Delegiertenbrief vom 24. Juni 2003
I. Mein Vorschlag für die direkt zu wählenden Mitglieder des Parteivorstandes:
II. Mein Vorschlag für Mitglieder des Parteivorstandes:
III. Weitere Vorschläge, die ich erhielt
IV. Vorschläge aus Landesvorständen, IGs, AGs u.a., die ich aus verschiedenen Gründen (Quotierung, Alter, Regionen, Länder u.a.) nicht angenommen habe, bedeuten in keiner Weise eine positive oder negative Wertung der betreffenden Persönlichkeit. Die inhaltlichen Positionen wurden im Zweifelsfall vor die regionale/landsmannschaftliche Repräsentanz gesetzt. Wichtig war zudem die erwiesene Teamfähigkeit bzw. die Bereitschaft zu kollektiver Zusammenarbeit.