Es ist ebenso schwierig wie wichtig für ein Mitglied der Partei Die Linke, die in der Tradition der kommunistischen SED steht, die 1968 aktiv gegen die Prager Reformen kämpfte, eine Position zu diesen Reformen heute zu vertreten. Die Intervention der Warschauer-Pakt-Truppen ist mehr oder weniger ein Fehler, ein Irrtum, auf jeden Fall aber ein Verbrechen gegen das tschechoslowakische Volk und gegen die Zukunft der sozialistischen Gesellschaft und der sozialistischen Ideen.
Herausforderung Produktivkraft Wissenschaft
Die Bilder von 1968: Studenten auf den Barrikaden in Paris und Sowjetpanzer in Prag. Beides Teil einer Weltrevolution, aber meist wird nicht hinter die Kulissen geschaut. Denn in den 1960er Jahren standen Ost und West vor den Herausforderungen einer Produktivkraftrevolution. In Berlin sprachen Philosophen von der Wissenschaftlich-technischen Revolution und Prags Richta-Report erkannte: Die These von der vollen Entfaltung der WTR auf dem Boden von Sozialismus und Kommunismus hat ihre "Richtigkeit … und zugleich die Reife der sozialistischen Gesellschaft in der Praxis (zu) erweisen", "eine äußerst schwierige Aufgabe". Wissenschaft, neue Formen der Arbeit, ein neue Rolle der Intelligenz brauchten andere Formen der Flexibilität, der ökonomischen Mechanismen und der demokratischen Mitwirkung. Nicht nur die Intelligenz hoffte auf eine Ende der Entfremdung.
Beide Systeme standen vor ähnlichen Problemen und ihre Ideologien gaben wenig Antworten. Das galt für Marx' Nachfahren mehr als für die von Adam Smith. Die These von der Konvergenz der Systeme widerspiegelte die Wirklichkeit konkreter, als viele glaubten. Noch war es die Zeit, da kapitalistische Manager und Wirtschaftspolitiker bei Planwirtschaftlern fremdgingen und Kommunisten den Markt entdeckten. Blindes wirtschaftliches Wachstum schien ebenso vorbei wie pauschale Gleichmacherei. Im Westen hatte kurzeitig der Keynes Konjunktur, obschon bald Friedmans Chicago-Boy triumphierten. Im Osten stand ein administrativ-zentralistisches, ein stalinistisches Wirtschafts- und Politikmodell, Sozialismus genannt, zur Disposition.
Gegen Konservative in West und Ost
In Osteuropa begann nach dem Ende des offenen Stalinismus und mit dem im August 1961 und im Oktober 1962 geklärten Status quo der Blockkonfrontation die Suche nach Reformen mit mehr Markt und Gewinn. Aber nur die ÈSSR und die Reformer in der KPÈ begriffen, daß diese ökonomischen Reformen mit mehr politischen Rechten und Demokratie verbunden sein mußten. Nur so konnte Sozialismus funktionieren.
Eine westdominierte Sicht auf das Jahr 1968 führt in die Irre. Denn die Produktivkraftrevolution und deren Folgen machten vor Grenzen nicht halt, wie Westeuropas Studenten bestätigten. Nicht nur für Prag formulierte das Richta-Team eine Erkenntnis, die auch Ulbricht erreichte: "Nutzung und Auswertung der Wissenschaft und Technik auf Grund einer die gesamte Gesellschaft umfassenden Einheit, Entfaltung eines wirksamen Interesses aller am Produktivitätswachstum der gesellschaftlichen Arbeit, zielbewußter Einsatz moderner Technik, Schaffung von Bedingungen dafür, daß alle menschlichen Fähigkeiten entstehen und zur Geltung kommen können – das sind die eigentlichen Reserven und einzigen Garantien eines Sieges neuer gesellschaftlicher Prinzipien unter den heutigen Zivilisationsbedingungen. Mit ihnen steht und fällt der Sozialismus und Kommunismus: alle müssen wissen, daß die neue Gesellschaft ohne die wissenschaftlich-technische Revolution unausweichlich untergehen müßte – ohne Rücksicht auf schöne Wünsche, festen Willen und die besten Absichten."
In landläufiger (West-)Sicht liegt es nahe, den Protest Prager Studenten im November 1967 für "Mehr Licht" - im doppelten Sinne angesichts von Strommangel in ihrem Wohnheim wie im gesellschaftsverändernden Sinne –, als Reaktion des Ostens auf die protestierenden Studenten im Westen zu betrachten. Dann werden auch protestierende DDR-Jungintellektuelle zur kleinen Revolte. Ebenso die unzufriedenen Arbeiter, die die Intervention ablehnten und mehr individuelle Freiheiten wollten. Ja, all dies gehört auch dazu und war Ausdruck einer klimatischen Veränderung der politischen Kultur des Ostens.
Aber die Reformideen im Osten kamen – mit unterschiedlicher Konsequenz – aus der Mitte der kommunistischen Parteien als Reformen von oben, die sich mit Bewegungen von unten ergänzten - oder zusammenstießen. Ohnedies waren alle Prozesse in Ost wie West eingebettet in eine Systemkonfrontation, die die Revolten und Reformen ebenso anfeuerte wie ihre Liquidierung begünstigte. Spätestens die Argumentation für das von den Hardlinern in Moskau, Berlin oder Warschau gefürchtete Verhängnis der tschechoslowakischen Reformen ist von der Furcht einer Niederlage im Kalten Krieg und dem Herausbrechen aus Ostblock geprägt. Jede Reform im Staatssozialismus veränderte und schwächte die Macht, ohne daß sofort klar war, ob Reformen die sozialistischen Wahl sicherten.
Die überraschende westliche Zuneigung für eine sozialistische Reform – zumal aus Westdeutschland – trug zur unglücksseligen Etikettierung und damit zum baldigen Verdikt bei. Wenn Abend für Abend das Westfernsehen wohlwollend aus Prag berichtete und dortige Politiker ihren DDR-Genossen Empfehlungen für einen besseren Sozialismus gaben, konnte dies das Mißtrauen nicht nur der politischen Führungsschicht stärken. Auch wenn es im Nachhinein nicht immer leicht verständlich sein mag, für viele einfache Parteimitglieder war die vorherige antistalinistische Revolution in Ungarn 1956 vor allem erinnerlich durch Lynchmorde an ungarischen Parteimitgliedern und Sicherheitskräften.
Wer den Warschauer Brief an die Prager Führung vom Juli neben die Rede von Charles de Gaulle am 30. Mai 1968 mit dem von ihm beschworenen Gespenst einer totalitären kommunistischen Diktatur legt, weiß, wie die Systemkonfrontation wirkte und den Aufbruch aus dem eigenen Lager heraus belastete, gar unmöglich machte.
Paradoxerweise liegt das Hauptproblem des Jahres 1968 eigentlich eher in den Jahren 1973 und 1989, als die Hoffnungen auf einen demokratischen Weg zum Sozialismus im Westen ebenso platzten wie die auf eine demokratische Erneuerung des Sozialismus im Osten – in einem faschistischen Militärputsch in Chile, dem Sturmlauf der Neoliberalen und dem Triumph einer aggressiv-antisozialen Variante des Kapitalismus. Letztere war dann Sieger im zuerst antistalinistischen, am Ende antisozialistischen Umwälzungsprozeß in Osteuropa. Und deshalb erinnert heute der politische Mainstream allein an die sowjetische Intervention in Prag und nicht an die sozialistischen, antikapitalistischen Ideen der Reformer.
Halbe und ganze Reformen
In Berlin, Moskau, Warschau und Budapest blieben die konservativen Parteiführungen bei "halben Reformen". Sie wollten sie nur in der Wirtschaft. Mehr Demokratie war für sie nur Gefahr in der Blockkonfrontation und für eigenen politischen Macht.
Die Reformen im Osten waren belastet. Erstens war der verkündete Sieg des Sozialismus vielleicht eine machtpolitischer, aber auf keinen Fall ein hegemonialer. Ohne geistige und kulturelle Hegemonie, ohne einen umfassenden demokratischen Prozeß der bewußten Gestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft durch die Massen ist der Sozialismus noch nicht vollzogen und dauerhaft verankert. Die Auseinandersetzungen um die Entfremdung, das Einfordern eines "Visums" für Kafka 1963 in Liblice stießen eine breite intellektuelle Diskussion an und liefen auf die Anerkennung notwendiger gesellschaftlichen Veränderungen zu. In der DDR fand dies vorzugsweise im Film statt, oder genauer, ihr wurde mit den Filmverboten des Jahres 1965 das Licht abgedreht. In diesem Jahr endete der kulturelle und intellektuelle Aufbruch nach dem Mauerbau 1961.
Dies warf zweitens die Frage nach Veränderungen des Machtsystems auf, in dem eine allmächtige Partei mit ihrem Wahrheitsmonopol ebenso kontraproduktiv war wie eine paternalistisch und patriarchal funktionierende Demokratie, die allein den Weg von oben nach unten akzeptierte. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß die DDR 1968 sich eine neue Verfassung gab, die wesentliche und durchaus sinnvolle Elemente einer spätstalinistischen Ordnung faßte, sich real gegen die Reformen in der ÈSSR instrumentalisieren ließ und gleichzeitig eine neues Selbstbewußtsein gegenüber der Bundesrepublik ausbildete. Aber eine Veränderung der Machtverhältnisse und -strukturen war damit nicht zu bekommen, obschon die NÖS-Jahre nicht frei von bedenkenswerten Elementen der Demokratieentwicklung auch in der DDR waren. Das betraf die breite Diskussion wichtiger Gesetze im Zivil- wie Arbeitsrecht, die Einführung gesellschaftlicher Gerichte, die Stärkung der Ständigen Produktionsberatungen als potentielle Basisdemokratie-Elemente in der Produktion. Dazu gehörte nicht zuletzt der Versuch Ulbrichts, die Allmacht des Politbüros mit einem System strategischer Arbeitskreise und anderer staatlichen Organe, auch eines aufgewerteten Staatesrates, zu schwächen. In der Praxis stellten aber all diese neuen Formen nicht die Allmacht und Allwissenheit der Partei und ihrer Führer in Frage.
Drittens war es die Frage, wie ein Wirtschaftsystem mit welchen Zielen ausgerichtet sein mußte, um die Verbindung der Massen mit ihrer eigenen Ordnung zu sichern und in der Systemkonkurrenz zu überleben. Die DDR und die ÈSSR waren hier Experimentierfelder, weil sie bei ihrem Stand der Wirtschaft, ihrer qualifizierten Arbeiterschaft und ihrer vergleichsweise engen Verflechtung mit der Weltwirtschaft frühzeitig an die Grenzen des Kommandosystems stießen.
In der "halben Reform" des Neuen Ökonomischen Systems blieb eine Erneuerung des Sozialismus auf dessen Wirtschaft reduziert und Demokratisierung spielte als nicht erkanntes und akzeptiertes Problem keine Rolle. Entscheidend war, ob Wirtschaftsreformen als komplexer oder als Einzelprozeß zu realisieren waren. Es ist undenkbar, den Realsozialismus nur auf dem Felde der Ökonomie zu reformieren und zu effektivieren. Die Anerkennung ökonomischer Gesetze erzwingt auch die Entfaltung von sozialistischer Demokratie und den Verzicht auf die Allmacht der Partei. Auf der anderen Seite ist aber auch kein moderner Sozialismus denkbar, der auf wirtschaftliche Effizienz und Leistungsanreize verzichtet, der erneut Plan und Markt konfrontiert.
Aber nicht die SED-, sondern die KPÈ-Reformer sahen, daß ökonomische Mechanismen, daß mehr Geld und Gewinn wenig helfen, wenn ein unflexibles, undemokratisches Machtsystem weiter existiert. Der Sozialismus war nur in Wirtschaft und in Politik zu verändern.
Ohne Reformen keine sozialistische Zukunft
Trotz Sympathien unter Intellektuellen und SED-Mitgliedern wandte sich die SED-Führung schnell von den Reformen in Prag ab. Die SED stärkte die stalinistische Fronde in der ÈSSR und die Kräfte der Intervention. Sympathisanten in der DDR und in der SED wurden diszipliniert. Es war ein kurzer Weg von Nutzung Ota Siks "Ökonomie - Interesse - Politik" als Lehrbuch über die Nachtlektüre Ulbrichts im Richta-Report und den Sympathiebekundungen für die Wirtschaftsreform nach dem Januar-Plenum der KPÈ bis zum Verdikt des Aktionsprogramms der KPÈ als "antileninistisch" und "konterrevolutionär". Nach dem Einmarsch wurden die wenigen Proteste unterdrückt, gegen 2.883 Mitglieder Parteiverfahren eingeleitet, es gab 223 Ausschlüsse. Reformintellektuelle wurden gemaßregelt.
Mit der Intervention endete ebenso das DDR-Reformprojekt, das NÖS. Auf Dauer wurde die Chance auf eine Reform des Realsozialismus verspielt. 1989 waren Reformer erneut in der Pflicht, aber der Druck in Richtung deutsche Einheit und Kapitalismus, gegen neue sozialistisch-demokratische Experimente war stärker. Das Problem 1968 waren nicht die Panzer der NVA. Die NVA war Teil einer Gesamtoperation der Warschauer-Vertrags-Staaten gegen die verbündete Tschechoslowakei. Aber Klugheit oder Vorsicht verhinderten ein neues 1938, was aber niemand wußte. Entscheidender war, daß die SED und ihr Reformkopf Ulbricht nicht begriffen, daß wirtschaftliche Reformen für einen effizienteren Sozialismus ohne einen demokratischeren Sozialismus scheitern mußten. Sicher, selbst ein Erfolg von Wirtschaftsreformen mußte einen Spagat bewirken zwischen der Zunahme sozialer Spannungen und der Ebnung des Weges zur kapitalistischen Restauration, wie die partiell weitergehenden Erfolge von Wirtschaftreformen in Ungarn, Polen, vor allem in der Perestroika-Sowjetunion und – mustergültig – in der Volkrepublik China es belegten. Auch 1968 hätten die Reformer scheitern können und unwillentlich das Tor für die kapitalistische Restauration aufstoßen können. Wir wissen es nicht, weil die sowjetischen Panzer in Prag und im ganzen Ostblock die Chance für einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" und eine sozialistische Marktwirtschaft zermalmten. 1968 wäre es die Niederlage in einem Sturm auf die Ideale des Sozialismus gewesen. Reformer von oben blieben letztlich einsam und selbst die massenhafte Politisierung in der ÈSSR war gegen Panzer und obsiegende Betonköpfe und Opportunisten aussichtslos.
Zwanzig Jahre später waren für die SED-Reformer und die neue PDS Perestroika und Prager Frühling Synonyme für einen letzten Versuch eines demokratischen Sozialismus. Nun hatten die Betonköpfe die meisten Sympathien für die sozialistische Idee in ihren Völkern vertrieben - mehr in Prag als in Berlin. Der Reformversuch kam zu spät.
1968 wurde wohl die letzte Chance für eine Erneuerung des Sozialismus zu Grabe getragen – auch, weil der Brückenschlag zu jenen anders laufenden Revolten im Westen und ihren Fragestellungen ausblieb. Das Jahr 1989 brachte auch in der DDR trotz eines versuchten Revivals der NÖS-Ideen keine Wiederkehr von 1968. Die Antworten, die sich nun durchsetzten, waren die eines in der politischen Form angepaßten, in der Manipulation geschickteren und ökonomisch knallhart rechnenden Kapitalismus.
Der Prager Frühling ist für die poststalinistische und postrealsozialistische Linke eine Erfahrung eines modernen Sozialismus, der demokratische Freiheiten, praktizierte sozialistische Eigentumsverhältnisse und wirtschaftliche Effizienz verbinden kann. Trotzdem, "von einem breiteren Gesichtspunkt aus gesehen übte ... der 'Prager Frühling' einen tiefen und dauerhaften Einfluß in der internationalen Arbeiterbewegung aus. Er ist zu einer Art Laboratorium für demokratischen Sozialismus geworden und wird dies ... in Zukunft in noch größerem Maße werden, und zwar für demokratischen Sozialismus in einem industriell entwickelten Lande, ähnlich wie es die Pariser Kommune für die Arbeiterbewegung der Anfänge des Sozialismus war."