Sozialismus oder Tod

Die folgenden Anmerkungen, haben die Absicht die im Interview aufgeworfenen Fragen und Probleme in einer anderen Art und Weise zu betrachten. Die Gedanken werden die gleiche Intention haben, jedoch eine andere Perspektive und Position einnehmen. Ich bin 1994 in Folge der Parteispaltung aus der tschechischen KP (KSCM) ausgetreten und zur Fraktion des Linken Blocks gewechselt. Noch heute existieren wir in Form der tschechischen Partei des Demokratischen Sozialismus (SDS) als ein kleiner intellektueller Kreis.

Im Gespräch mit Stanislav Holubec wurde richtig konstatiert, dass der Prager Frühling das Schlüsselereignis der jüngeren tschechischen Geschichte war und die Mehrheit der heutigen KSCM Mitgliedschaft das Jahr 1968 als einen "...Versuch der Revisionismus sozialistischer Ideen und der Sozialdemokratisierung" betrachtet. Ich zitiere weiter: "Außerdem wird der Einmarsch der sowjetischen Truppen als notwenige internationale Intervention, als Hilfsaktion verstanden. Wenn die sowjetische Armee nicht gekommen wäre, hätte sich danach der Kapitalismus durchgesetzt." Es ist wie schon gesagt notwendig den Betrachtungswinkel etwas zu verbreitern und einen Blick auf die Ursache dieser genannten Mehrheitsposition in der KSCM zu werfen, damit sich dem Leser die Sinnschlüssigkeit des heutigen Handelns der KSCM als politisches Subjekt, erschließt.

Es wäre vielleicht plausibel den deutschen Leser zu erinnern, dass die KSC (KPC) der tschechoslowakische Vorläufer der KSCM war und 1989 wahrscheinlich die stärkste kommunistische Partei der Welt im Sinne des Verhältnisses der Zahl der Mitglieder zur Bevölkerung. Am 1.Oktober 1989 hatte die Partei 1.697.745 Mitglieder und Kandidaten. Die Tschechoslowakei hatte damals 15 Millionen Einwohner! Es ist also wichtig zu fragen: wie ist dies möglich nachdem es doch 1968 zu eine Säuberung im Name des Kampfes gegen "rechten Opportunismus und Revisionismus" in der Partei gekommen war. Damals mussten ca. 20 Prozent der Mitglieder die Partei verlassen, weil sie die Frage "Wie ist deine Beziehung zur Internationalen Hilfe?" (Einmarsch der sowjetischen Truppen) nicht richtig beantworteten. Was für Beweggründe konnten dann Menschen haben, die zwischen 1970 und 1989 Mitglieder der Kommunistischen Partei geworden sind?

Nach der Wende haben die Partei innerhalb eines halben Jahres 55 Prozent der Mitglieder verlassen. Das waren besonders die Leute, die die Kommunistische Partei als Fahrstuhl zu wichtigen Positionen im System, vor allem in der Wirtschaft nutzten. In diesem Sinne besteht kein Unterschied zwischen der KSC und SED. Der Hauptunterschied liegt jedoch in der Tatsache, dass in der KSC im Vergleich zur SED die Reformflügel wegen der "Normalisierung" nach dem Prager Frühling geschwächt worden sind. Dieses Handicap findet heute seinen besonderen Ausdruck in den Mehrheitspositionen der KSCM Mitglieder bezüglich ihrer Beziehungen zum Stalinismus. Beide Parteien haben den Stalinismus zwar strickt abgelehnt, aber wie sagt man auf Tschechisch: "Wenn zwei das Gleiche machen, machen sie doch nicht das Gleiche." In beiden Nachfolgeparteien ist noch bis heute der Stalinismus etwas anders bewertet.

Für die PDS ist Stalinismus tief in den 20ziger Jahren des letzten Jahrhunderts verwurzelt und eine Systembeschädigung der Marxschen Definition des Kommunismus nach der, an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation tritt, in der "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (Red.: MEW Band 4 S.482). Die KSCM versteht jedoch Stalinismus eher als Deformation einer prinzipiell richtigen Entwicklung des gesellschaftlichen Fortschritts. Somit bleibt für die KSCM die Zeit des realen Sozialismus "die besten Jahre der tschechischen Geschichte". Der neokommunistische Flügel der KSCM steht bewusst zu den von Lenin eingeführten theoretischen Vereinfachungen, die von Stalin vertieft worden. Dieser Flügel ist jedoch in der Minderheit und das Engagement ihres Wirkens in den Reihen der Partei ist sehr begrenzt.

Der Prager Frühling beeinflusst also noch nach 35 Jahre die Politik der tschechischen Linken, paradoxer Weise im negativen Sinne. Statt einer Inspiration, die auch der tschechischen Öffentlichkeit etwas zu sagen hat, bleibt der Prager Frühling für die Linke eine geschlossene Büchse der Pandora.

Die zweite Bemerkung betrifft die Beziehung der KSCM zur Partei der Europäischen Linken (Red.: Gründungskongress 8./9.05.2004 in Rom) und hat auch etwas mit der ersten Bemerkung zu tun. Im Interview sagt Stanislav, dass das Engagement der KSCM für eine Partei der europäischen Linken die Öffnung der KSCM beschleunigt und meint, dass gerade diese Tatsache ein Grund ist dafür, dass die "Stalinistischen Kräfte in der KSCM sich gegen diese Öffnung und Integration wenden". Hier irrt Stanislav meiner Meinung nach beziehungsweise erfasst seine Aussage nicht die ganze Substanz der Dinge.

Die Kennzeichnung der "Stalinistischen Kräfte" ist nicht korrekt, es sei denn ich verstehe dies als unzulässige Vereinfachung für die Reste der seltsamen bürokratischen Klasse aus der Zeit des "realen Sozialismus", die in der tschechischen KP geblieben ist. Diese Vertreter der ehemaligen realsozialistischen Bürokratie sind in ihrem eigenen Selbstverständnis keine Stalinisten, im Gegenteil sie stigmatisieren sogar andere Personen negativ mit dem Stalinismusvorwurf.

Vor allem möchte ich aber betonen, dass die heutige negative Stimmung gegenüber der Partei der Europäischen Linken ihre Ursache nicht im Widerstand gegen eine vermeintlich damit einhergehende Öffnung der KSCM hat. Es ist vielmehr so, dass sich die KSCM, eingeschlossen in einem geistigen Ghetto mit anderen postkommunistischen Kräften ein wenig masochistisch wohl fühlt (ein Psychologe könnte dies sicher gut erklären) und aus diesem Ghetto beobachtet sie mit einem gewissen Genugtuungsgefühl ihre eigenen steigenden Präferenzen. Meiner Meinung nach glaubt die Mehrheit der KSCM-Mitglieder an den proletarischen Internationalismus. Diese Mehrheit ist davon überzeugt, dass man sich vor allem den wahren kommunistischen Parteien öffnen muss und gemeinsam mit ihnen das Feld bereiten sollte um die Bedingungen zum Einzug des Sozialismus zu schaffen.

Die europäische Integration verstehen die meisten KSCM Mitglieder als eine kapitalistische Integration und sie fragen sich: "qui bono?". Unter ähnlich Gesichtpunkten beobachten sie den von einigen kommunistischen und sozialistischen Parteien Europas beförderten Gründungprozess der Europäischen Linkspartei und stellen die Frage, ob es sich nicht um ein opportunistisches Taktisieren vor der Wahl handelt. Gleichzeitig verstehen die meisten tschechischen KP Mitglieder die Pluralität zwischen den verschiedenen europäischen Linksparteien (wie Stanislav völlig richtig feststellt) als Weg zur Sozialdemokratisierung. Wenn ich diese Auffassung vereinfache, so meinen die meisten KSCM Mitglieder: "Internationalismus ja, aber nur unser Internationalismus!" Darum auch das "ja" zur Partei der Europäischen Linken, aber erst nach den Europawahlen, wenn sich die Stärke der KSCM zeigt und sie den Integrationsprozess der europäischen Linke bestimmen können.

Die letzte und kürzeste Bemerkung: Stanislav spricht im Interview sehr diplomatisch davon, dass, "die PDS ihren Nachbarn nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt". Ich bin persönlich überzeugt, dass es sich um einen Bereich handelt, den die PDS langfristig unterschätzt hat. Keine andere postkommunistische Partei, hat von der Geschichte eine solch einzigartige Möglichkeit bekommen, zweierlei zu verbinden: den europäischen Integrationsprozess aus dem Westen beobachten zu können und gleichzeitig die Erfahrungen aus der staatssozialistischen Zeit zu besitzen. Ich weiß, dass es Versuche gab um formelle oder auch inoffizielle Kooperationen mit anderen linken osteuropäischen Parteien aufzubauen, dass es in den Reihen der PDS auch Persönlichkeiten gibt, die sich mit ihren Bestrebungen dem "Osten" zu helfen mit einer goldenen Handschrift in die Seiten der Geschichtsbücher geschrieben haben. Trotzdem finde ich die Versuche unzureichend vor allem zum Schaden der PDS, wie es auch heute sichtbar wird.

Europa steht vor großen Veränderungen. Nicht nur, dass am 1. Mai 2004 neue Länder zur EU kommen. Es sind noch mehr Fragen auf dem Tisch. Hält die neoliberale Offensive an und führt somit in ein "Stalingrad", repariert sich der sozialdemokratische "Dritte Weg" und orientieren ihre Vertreter das politische Streben um? Man kann die Veränderungen auch in anderen Teilen der Welt fühlen. Die Popularität des amerikanischen Präsidenten Busch sinkt zur großen Freude der Linken und die Demokratische Partei steht jetzt in der Nähe der Macht. Fidel Castro hat in diesem Jahr zum ersten Mal seine Rede zum 45. Gedenktag der Revolution nicht mit den Worten "Socialismo o muerte" beendet. Wo werden wir diesen Satz das nächstes Mal hören? Es sieht so aus, das wir an einem Schüsselpunkt der Geschichte angekommen sind.

Milan Neubert, 22. 2. 2004, geschrieben für lavka.info
Autor ist der Vorsitzende der Partei des demokratischen Sozialismus in Tschechien.
Das tschechische Original findet man hier.